Dialekt vs. Hochsprache im Gerichtssaal
In arabischen Gerichtssälen wird während der Verhandlung häufig ausschließlich im jeweiligen arabischen Dialekt kommuniziert. So sprechen Zeugen und Angeklagte häufig in der Umgangssprache und werden in diesem Register auch von Richtern, Staatsanwaltschaft oder Rechtsanwälten befragt. Gleichzeitig muss das Geschehen aber auch schriftlich festgehalten werden, meist durch den Gerichtsschreiber im Verhandlungsprotokoll. Die Sprache des Protokolls aber ist fuṣḥā, das formale Hocharabischen. Das klingt nach einer bloßen Formalität, hat aber weitreichende Folgen. Denn was mündlich gesagt wird, erscheint schriftlich oft in einer abgewandelten Form mit allen Gefahren von Auslassungen oder Bedeutungsverschiebungen, die auch das Urteil beeinflussen können. Eine wissenschaftliche Studie hat das am Beispiel libanesischer Gerichte untersucht.
Ein paar Beispiele verdeutlichen die Problematik:
- Zeitformen: Im Dialekt wird häufig mit Partikeln wie „ʿam“ die Verlaufsform ausgedrückt („ʿam biktob“ = er ist gerade am Schreiben). Im Protokoll wird daraus ein einfaches „yaktubu“ (er schreibt). Der Unterschied zwischen „gerade jetzt“ und einer allgemeinen Aussage kann damit verloren gehen.
- Nuancen bei Verben: Das im levantinischen Arabisch verwendete „biddī“ bedeutet „ich will“ oder „ich habe die Absicht“. Im Hocharabischen wird es meist mit „urīdu“ wiedergegeben – das klingt formaler und stärker verpflichtend. Ein Unterschied, der im juristischen Kontext erheblich sein kann.
- Modalpartikel: Dialektale Ausdrücke wie „raḥ“ (wird gleich, Futur) oder „ma baʿref“ (ich weiß nicht) erscheinen im Protokoll als klar strukturierte Futur- oder Verneinungssätze im Hocharabischen. Dabei gehen oft die spontanen, unsicheren oder zögerlichen Elemente der Aussage verloren.
- Stilverschiebung: Ein Angeklagter mag im Dialekt sagen: „ma ʿmilt šī“ („ich hab nix gemacht“). Im Protokoll wird das fast immer zu „lam afʿal šayʾan“, eine grammatisch einwandfreie, aber stilistisch viel „gehobenere“ Ausdrucksweise, die nicht mehr dieselbe Spontaneität trägt. Damit geht die mögliche Nuance, ob der Sprecher erstaunt war, ob er nur beiläufig bestätigte oder ob er sich zögerlich sicher war, verloren.
In meiner eigenen Tätigkeit als Gerichtsdolmetscher vor deutschen Gerichten bin ich ebenfalls häufig mit der Thematik Dialekt vs. Hochsprache konfrontiert. Wenn ich zum Beispiel die Verlesung einer Klageschrift durch die Staatsanwaltschaft verdolmetscher, komme ich um das Hocharabische nicht herum, da es ein schriftlich fixierter Text mit entsprechender Stilebene und Terminologie ist. In vielen Fällen ist das aber für den Angeklagten nur sehr schwer verständlich.
Marokko: Amtliche Schreiben auf Französisch „rechtswidrig“
Interessant ist ein Urteil aus Marokko von 2018: Das Berufungsgericht in Rabat erklärte die Verwendung von Französisch durch Behörden für unzulässig. Amtliche Schreiben müssten auf Hocharabisch erfolgen, so das Gericht. Französisch wurde als unzulässig eingestuft. Bürger hätten das Recht, Verwaltungsakte auf Arabisch zu erhalten.
Umgekehrt urteilte dasselbe Gericht in einem anderen Fall: Eine auf Arabisch verfasste Kündigung an eine in Marokko lebende französische Mieterin sei ungültig. In erster Instanz hatte das Gericht die Kündigung noch bestätigt und der Mieterin angelastet, nicht genügend bewiesen zu haben, dass sie kein Arabisch versteht. Das Berufungsgericht korrigierte dies und stellte klar, dass bei einer ausländischen Partei die Beweislast umgekehrt ist: Der Vermieter müsse nachweisen, dass die Empfängerin Arabisch versteht, andernfalls gelte sie als „analphabetisch“ im Sinne des Gesetzes.
Katar und VAE: Schriftsätze zurückgewiesen, Kontorverse um Dolmetscher
Auch in Katar betonen Gerichte immer wieder, dass Verfahren nur dann gültig sind, wenn die Schriftsätze in „korrektem Arabisch“ vorliegen. Mehrfach wurden in Verfahren Schriftsätze oder ganze Fälle aus diesem Grund von katarischen Gerichten abgewiesen.
In den Vereinigten Arabischen Emiraten wurde die Frage nach Dolmetschern in einem politische Prozess kontrovers diskutiert: Im bekannten Fall des britischen Wissenschaftlers Matthew Hedges warf dessen Verteidigung den Behörden vor, diese hätten ihn gezwungen, arabische Dokumente zu unterschreiben, die er gar nicht verstanden habe. Dagegen trugen die emiratischen Behörden vor, dem Inhaftierten seien alle Verfahrensschritte vorschriftsgemäß verdolmetscht bzw. übersetzt worden.
Fälle aus der Türkei, Europa und den USA
Ein weiteres Beispiel findet sich in der Türkei: Im Fall Amer gegen Türkei (2009) war der Angeklagte arabischsprachig und verstand Türkisch nur teilweise: genug, um mündlich zu antworten, jedoch nicht ausreichend, um schriftliche Unterlagen oder Protokolle sicher zu erfassen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, dass das nicht ausreicht, um die Rechte eines Angeklagten zu wahren. Der EGMR stellte klar: Wer nicht garantieren kann, dass der Betroffene vollständig versteht, muss Dolmetscher oder Übersetzung bereitstellen.
Dass Arabisch auch außerhalb der arabischen Welt die Gerichte beschäftigt, zeigt ein aktueller Fall aus Berlin: Vor dem Verwaltungsgericht ging es 2025 um ein Sprachenverbot auf einer politischen Demonstration. Die Polizei hatte das Skandieren von Parolen auf Arabisch untersagt, offiziell mit dem Argument, dass die Übersetzbarkeit und Verständlichkeit für die Sicherheitskräfte gewährleistet sein müsse. Die Kläger sahen darin jedoch einen Eingriff in die Meinungsfreiheit und in das Grundrecht auf Gleichbehandlung. Das Gericht musste sich folglich mit der Frage auseinandersetzen, ob der Staat das Verwenden bestimmter Sprachen im öffentlichen Raum untersagen darf, und wie weit Sicherheitsbedenken dabei verfassungsrechtlich tragen.
In den USA kam es im Jahr 2006 kam am Flughafen New York-JFK zu einem viel beachteten, zugleich absurden wie ernsten Zwischenfall: Ein Passagier wurde von einem Flug ausgeschlossen, weil er ein T-Shirt mit arabischem Schriftzug trug (darauf stand: „We will not be silent“). Das Sicherheitspersonal argumentierte, andere Reisende hätten sich durch die arabische Schrift unwohl gefühlt. Der Vorfall führte zu einer juristischen Auseinandersetzung, in deren Folge ein Bundesgericht dem Betroffenen eine Entschädigung zusprach.