In der klassisch-arabischen Literatur findet sich die folgende Anekdote: Ein blinder Dichter wird gefragt, wie viele Bezeichnungen es für Löwen gibt. Als dieser von einer anderen Person angerempelt und als „Hund“ beschimpft wird, antwortet er schlagfertig: Ein Hund sei nur derjenige, der nicht siebzig Bezeichnungen für diesen kenne. Zwar ist die Zahl von siebzig arabischen Wörtern für „Hund“ eine große Übertreibung, doch die Anekdote hat einen realen sprachlichen Hintergrund: Der arabische Wortschatz kennt eine erstaunliche Fülle an Tierbezeichnungen – etwa 400 für den Löwen und rund 255 für das Kamel. Doch wie kommt es dazu?
- Synonyme, Varianten und Nuancen
- Warum das Arabische so viele Wörter für Tiere kennt
- Der Löwe: Mut, Größe, Lautstärke
- Das Kamel: Träger, Trinkverhalten, Temperament
- Die Falkenpost
- Drei arabische Kamel-Sprichwörter
- Drei arabische Löwen-Sprichwörter
Synonyme, Varianten und Nuancen
Das Arabische kennt für viele Begriffe mehrere Bezeichnungen, sogenannte mutarādifāt (مُتَرَادِفَات), also Synonyme. Ob diese immer bedeutungsgleich sind, war schon früh umstritten. So diskutierten klassische Sprachwissenschaftler wie Sibawayh und al-Jurjānī, ob es echte Synonyme überhaupt gebe oder ob nicht bei jeder Bezeichnung Unterschiede vorlägen – wenn auch nur in Nuancen. Zwei der vielen Wörter für „Löwe“ lauten beispielsweise Layth und Dhirgham. Während das erste die physische Kraft hervorhebt, fokussiert sich das zweite auf den Mut.
Warum das Arabische so viele Wörter für Tiere kennt
- Unterschiedliche Stammesdialekte: In der vorislamischen Zeit sprachen die einzelnen arabischen Stämme unterschiedliche Dialekte. Aus diesen Dialekten wurden viele Bezeichnungen parallel überliefert, beispielsweise von arabischen Lexikographen, die umherreisten, um diese Varianten zu sammeln.
- Arabische Dichtung: In der klassischen arabischen Dichtung galt die Wiederholung als Zeichen sprachlicher Schwäche. Wer als Dichter etwas auf sich hielt, suchte nach Varianten, um denselben Sachverhalt klanglich und bildlich abwechslungsreich zu gestalten.
- Alltagsbeobachtungen: Gerade für das Kamel, das traditionell eine große Rolle für die Bewohner der arabischen Halbinsel spielte, entstand ein differenzierter Wortschatz – je nach Alter, Geschlecht, Farbe, Einsatz oder Trinkverhalten.
- Lehnwörter: Auch Begriffe aus dem Persischen, Äthiopischen oder Aramäischen fanden Eingang in den arabischen Wortschatz – etwa arsalān für „Löwe“ aus dem Mittelpersischen.
- Bedeutungswandel: Manche Begriffe wie baʿīr bezeichneten ursprünglich ein Lasttier im Allgemeinen und wurden später auf das Kamel spezialisiert.
Der Löwe: Mut, Größe, Lautstärke
Der Löwe (asad أسد) steht in arabischen Texten häufig für Mut, Stärke und Würde. Aus vielen dieser Bezeichnungen wurden Eigennamen:
- Asad (أَسَد): neutraler Begriff, heute gebräuchlichster Ausdruck
- Layth (لَيْث): betont Kraft und Entschlossenheit
- Dhirgham (ضِرْغَام): steht für Mut und Angriffslust
- Haydar / Haydara (حيدر / حيدرة): schwerer, gewichtiger Löwe
- Qaswara (قَسْوَرَة): selten, im Koran als dramatisches Bild
- Ghadhanfar (غَضَنْفَر): majestätischer, wuchtiger Löwe
- Hamza (حمزة): ursprünglich „der Grimmige“
Das Kamel: Träger, Trinkverhalten, Temperament
Kaum ein Tier ist in der arabischen Sprache so präsent wie das Kamel. Die wichtigsten Begriffe im Überblick:
- Jamal (جمل): männliches Kamel
- Naqah (ناقة): Kamelstute, oft in religiösen Texten
- Baʿir (بعير): Reit- oder Lastkamel
- Ibil (إبِل): Kollektivbegriff für eine Herde
- ‚Is (عيس): helle Karawanenkamele, poetisch
- Hijīn (هجين): Zuchtmischung, oft schneller und kräftiger
Hinzu kommen Fachbegriffe, die bestimmte Altersstufen oder Zustände beschreiben: Dazu zählen das Kameljunge beim Säugen, das entwöhnte Jungtier, junge Männchen oder Weibchen, schnelle Reittiere sowie besonders durstresistente Tiere. In einem Umfeld, in dem das Kamel überlebenswichtig war, bedeutete die genaue Bezeichnung eines Tiers einen realen Vorteil. Auch in der klassischen arabischen Dichtung dienten die vielen Namen dazu, das Reittier des Dichters anschaulich und variantenreich zu beschreiben.
Übrigens tritt das Kamel in der altarabischen Dichtung weit mehr als nur als bloßes Transport- oder Nutztier in Erscheinung. Es verkörpert Zähigkeit, Loyalität und Eleganz – Eigenschaften, die vielfach metaphorisch auf den Dichter selbst oder eine geliebte Person übertragen wurden. Besonders die Kamelstute (nāqah) erscheint oft als Symbol der Weiblichkeit, Schönheit und Sehnsucht. Ihre geschmeidigen Bewegungen, ihre Geduld und ihre Anmut inspirierten nicht selten erotische Assoziationen.
In der modernen arabischen Hochsprache haben sich selbstverständlich nur einige wenige Wörter aus dieser Vielfalt durchgesetzt. Viele dieser Ausdrücke sind heute nicht mehr im aktiven Sprachgebrauch, sondern finden sich in Literatur, Poesie, religiösen Texten und der Namenstradition.
Die Falkenpost
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Drei arabische Kamel-Sprichwörter
- لا ناقة لي فيها ولا جمل „Darin habe ich weder eine Kamelstute noch ein Kamel.“ Wird verwendet, wenn man mit einer bestimmten Sache nichts zu tun hat oder kein persönliches Interesse daran hat. Auf Deutsch etwa: „Ich habe damit weder etwas am Hut noch zu verlieren.“
- ما هكذا تُورَد يا سعدُ الإبل „So führt man die Kamele nicht (zur Tränke), o Saad.“ Wird benutzt, um jemanden zu tadeln, der etwas auf falsche Weise tut. Sinngemäß: „So macht man das nicht!“
- الجمل لا يرى اعوجاج رقبته „Das Kamel sieht die Krümmung seines eigenen Halses nicht.“ Wird für die Tatsache verwendet, dass man selbst die eigenen Fehler oft nicht erkennt.
Drei arabische Löwen-Sprichwörter
- أسدٌ عليّ وفي الحروب نعامة „Ein Löwe gegen mich, aber im Kriege ein Strauß.“ Dieses berühmte Sprichwort verspottet zum Beispiel die Großmäuligkeit eines Angebers, der sich nur gegenüber Schwächeren wie ein Löwe aufführt, bei echter Gefahr aber feige wie ein Strauß den Kopf in den Sand steckt.
- إذا رأيتَ أنيابَ الأسدِ بارزةً فلا تَظُنَّ أنَّ الأسدَ يبتسمُ لك „Wenn du die Zähne des Löwen siehst, glaube nicht, dass er dich dabei anlächelt.“ Dieses Sprichwort (ursprünglich aus einem Vers des bekannten arabischen Dichters al-Mutanabbi) warnt davor, Anzeichen von Gefahr oder Aggression falsch zu deuten. Mit anderen Worten: Wenn ein Mächtiger seine Zähne zeigt, ist das kein Lächeln.
- هذا الشبل من ذاك الأسد „Dieses Löwenjunge stammt von jenem Löwen.“ Entspricht dem deutschen „Wie der Vater, so der Sohn“.
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